Schließen

Die Zukunft des Einzelhandels

Bevor Howard Saunders ein bekannter Futurist im Einzelhandel wurde, hat er über 25 Jahre lang Läden entworfen. Mit dieser Erfahrung im Gepäck sprach er mit Holbox über den Einzelhandel der Gegenwart und der Zukunft. Das brachte eine Reihe ausgesprochen wertvoller Erkenntnisse. Der selbst ernannte „Wahrheitsverkünder” hat eine wichtige Botschaft: „Die Zukunft ist chaotisch, die Gegenwart auch”.

Eine der wichtigsten zukünftigen Veränderungen im Einzelhandel wird die Unterscheidung zwischen Groß- und Kleinstädten sein. „Genauso würde ich das kurz und knapp zusammenfassen. Ganz einfach.” Er fügt noch hinzu, dass diese Zukunft chaotisch aussehen wird. „Nicht alle Geschäfte werden die Kurve kriegen. Das gilt auch für Verkehr, Energie und viele andere Bereiche. Der große Wandel zeichnet sich deutlich ab. Jedoch gibt es viele Faktoren, die berücksichtigt werden müssen. Wir befinden uns nämlich nicht in einem einheitlich-homogenen Markt. „Ich habe leider keine magische Glaskugel, die mir alles vorhersagt. Aber ich versuche auch nicht, mich zu drücken oder Dingen aus dem Weg zu gehen.”

Zurück in die Zukunft der Innenstädte

Zurück in die Zukunft der Innenstädte

Nachdem wir uns während der Lockdowns zuhause beschäftigen mussten, haben wir die Läden und Geschäfte vor Ort mehr denn je wieder schätzen gelernt, so Saunders. „Wir wollten einfach nur noch raus und wieder unter Leuten sein. Der Mensch ist schließlich ein soziales Wesen. Ich habe beispielsweise den örtlichen Bäcker und den Metzger kennengelernt. Seither weiß ich ihre Rolle für die Gemeinschaft viel mehr zu schätzen.” Das Handwerk von Metzger, Bäcker, Florist und Kerzenzieher hat durch die Krise wieder an Bedeutung gewonnen: „Wir möchten lokal und nachhaltiger einkaufen. Wir wünschen uns lebendige, ansprechende Innenstädte.”

„In der jüngeren Vergangenheit wurden die Läden für die Großstädte konzipiert. Ein müder Abklatsch derselben Geschäfte überspülte die Kleinstädte. Derzeit sind jedoch Hunderte dieser Marken massenweise auf dem Weg zum Exodus. Ich bin davon überzeugt, dass wir in ganz Europa eine Renaissance der Innenstädte erleben werden. Der Marktplatz wird zurückkehren und mit vielen lokalen Produkten und lokalen Herstellern bevölkert werden.” Wirtschaftliche Unsicherheit und Inflation werden ihren Tribut fordern. Sobald die Lage sich jedoch beruhigt hat, werden junge Unternehmer die Chance zur Erneuerung nutzen - mit sinnvollen Geschäften, die die von Ketten und Marken im mittleren Segment hinterlassenen Lücken schließen werden. Saunders ist sich sicher, dass dies eine gute Nachricht für unsere lokalen Gemeinschaften ist. Seine Prognose: Die unabhängige Wiederbelebung unserer Kleinstädte wird vom Lebensmittelsegment ausgehen - traditionelle Bäckereien, Feinkostläden, Abholrestaurants und Pop-ups.

„Wenn man so will, haben uns die Lockdowns in eine Art weltweites Experiment gezwungen, nämlich in einer Blase zu leben. Und jetzt wissen wir Bescheid: Wir sind Menschen. Und Menschen haben das Bedürfnis rauszukommen und ihre sozialen Kontakte zu pflegen. So einfach ist das.”

Immersive Orte in Innenstädten

Immersive Orte in Innenstädten

Stellen wir uns mal einen durchschnittlichen Laden vor, mit Verkaufseinheiten, Produkten auf Displays, ein Lager im hinteren Bereich und vielleicht eine Art „Theaterstück” oder „Storytelling”, um uns als Kunden interessiert zu halten. In einer nicht allzu fernen Zukunft werden Läden nicht mehr Läden im eigentlichen Sinne sein.

„In den Läden und Geschäften wird sich nichts mehr um den Verkauf von Dingen drehen. Es werden Veranstaltungsorte sein, Schauplätze an denen wir mit dem jeweiligen Stil, Witz und der Markenweisheit verführt werden. Das gilt insbesondere für große, reiche Marken wie Prada, Gucci, Adidas oder Nike, die die Kunden mit irren, immersiven Orten auf eine Reise mitnehmen. Das muss man sich wie eine Verführungsparade vorstellen, während der dem Kunden erklärt wird, warum er ohne genau diese Marke nicht mehr leben kann. In diesen Läden - ich nenne sie ‚Markenspielplätze’ – geht es darum, dass der Kunde sich verliebt und denkt: ‚Das ist genau die richtige Marke für mich’.”

„Alles wird viel binärer werden: Kleinere Marken und Start-ups werden sich darauf einstellen, handwerklich oder immersiv zu sein. Vielleicht haben die Verbraucher auch irgendwann genug von immersiven Orten und träumen von Produkten im Verkaufsregal. Dann werden sie in den Kleinstädten glücklicher sein. In den Großstädten wird sich alles um Unterhaltung drehen. Traditionelle Kaufhäuser sehen ja – von einigen wenigen Ausnahmen abgesehen - schon jetzt wie ein Relikt aus der Vergangenheit aus. Und alle diese Schuhmarken im mittleren Segment? Die wird es dann nicht mehr geben.”

Die Personalisierung wird in der Zukunft zweifelsfrei eine wesentliche Rolle spielen, so Saunders. „Die Summe allen menschlichen Wissens halten wir seit 2008 in Form eines Smartphones in den Händen. Auf dieser kleinen Glasplatte sind derzeit die meisten meiner Daten gespeichert. Wenn ich es zulasse, wird sie zu einem Pass für meine Erfahrungen und Dienstleistungen mutieren.” Die Daten auf unseren Smartphones und in unseren Social-Media-Profilen werden genutzt, um Dinge sorgfältig und anhand unserer individuellen Vorlieben für uns auszuwählen. „Früher debattierten Marketingexperten über Demografie. In Zukunft werden sich Marken auf Ego-Grafiken konzentrieren: Jeder Einzelne von uns wird zur Zielgruppe.”

„Stadtzentren werden sich zu riesigen Markenspielplätzen entwickeln, auf denen uns Spaß, Spannung und Anregung geboten wird: Immersive Ausstellungen, KI-generierte Shows und Erlebnisse sowie kulturelle Retrospektiven, die alle von Marken gesponsert werden, die sich bei uns beliebt machen wollen. Die kreative Zusammenarbeit wird geradezu aufblühen, da wir alle von den verrückten Ergebnissen begeistert werden, die aus genau dieser Zusammenarbeit zwischen den Marken entstehen.”

KI und die Menschlichkeit

KI und die Menschlichkeit

„Einstein warnte uns bereits in den 1930er Jahren: Alle unsere Arbeitsplätze werden von Robotern übernommen. Und siehe da, fast 100 Jahre später gibt’s uns immer noch, noch immer an der Arbeit. Damals konnte natürlich keiner ahnen, wie die heutigen Arbeitsplätze aussehen würden – weil es sie schlichtweg noch nicht gab. Das Gleiche gilt jetzt auch für uns.” Als Beispiel für den Beschäftigungswandel nennt Saunders das Gastgewerbe. „Für uns heute keine besondere Sache mehr. Vor 70 Jahren gab es diese Branche so gut wie nicht.”

Howard versteht die Angst, die die Zukunftstechnologie den Menschen einflößen kann: Künstliche Intelligenz, Drohnenlieferungen, virtuelle Realität, das Metaverse und so weiter. Die Entwicklungen und damit verbundenen Veränderungen finden in einem bisher beispiellosen Tempo statt. Dennoch: Genau in diesem technologischen Orkan liegt der Beweis für die Menschlichkeit: „Da unser Leben immer mehr von KI gesteuert und am Laufen gehalten wird, spielen Authentizität und Menschlichkeit eine immer größere Rolle. Wir haben eine Welt geschaffen, in der wir nicht nur Zugang zu allem Vorhandenen haben, sondern auch zu allem, was wir uns vorstellen können. Dabei vergessen wir zu oft, dass wir in diesen Zukunftsvisionen als Mensch immer noch vorhanden sind. Es wird nach wie vor Menschen wie Sie und mich geben, die gerne eine gute Tasse Kaffee trinken und sich am Lächeln eines anderen Menschen erfreuen.”

Blue Ocean von Holbox

Blue Ocean von Holbox

„Mit anderen Worten: Menschliche Verbindung ist die Antwort für Ihr Unternehmen und für alle Unternehmen in der Zukunft. Saunders geht davon aus, dass es nicht mehr lange dauern wird, bis KI die gesamte Verwaltung, alle Spreadsheets, Konten, Planungsberichte und Datenanalysen übernehmen wird. Dem Menschen wird dann die Rolle des Schiffsführers zu teil, der Dinge überwacht, zuhört, gastfreundlich ist und sich wirklich bedankt. Der persönliche, menschliche Touch wird sich zu einer ausgesprochen wertvollen Währung entwickeln.”

Es wird unsere Aufgabe sein, Magie in ein Unternehmen zu bringen, so Saunders: „Das Zusammenbringen von Menschen, Dingen oder Unternehmen, die normalerweise Weise nichts miteinander zu tun haben, kann für überraschende, neue Ideen und Kreativität sorgen. Eine Marke am Rande des Untergangs kann beispielsweise mit etwas kreativem Einsatz wieder auferstehen.” Wir sollten uns darum nicht vor dieser beängstigenden Zukunft zurückziehen, sondern proaktiv, offen und kreativ an sie herantreten. „Wenn man zwei Marken zusammen kreativ werden lässt, wird sich ganz schnell eine neue Denkweise entwickeln. Innovieren, innovieren, innovieren, das ist die Antwort. Schwierig ist das nicht. Es braucht nur den Mut, die banalsten Aspekte in Angriff zu nehmen und sie außergewöhnlich zu machen. Man darf einfach nicht ständig versuchen, sich auf Altbewährtes zu verlassen.”

Nachhaltigkeit und Verbraucherverhalten

Nachhaltigkeit und Verbraucherverhalten

Saunders fürchtet, dass das Nachhaltigkeitsstreben nur eine weitere Ausrede ist, um tatenlos zuzusehen und nicht proaktiv zu sein. „Schuldgefühle sind die größte Hürde, die wir überwinden müssen”, sagt er.

„Wussten Sie, dass täglich weltweit 385.000 Babys geboren werden? Das hört sich nicht gerade nachhaltig an, oder? Bis es sich um das eigene Baby handelt. Und schon sieht alles ganz anders aus. Das eigene Baby ist natürlich einmalig und etwas ganz Besonderes. Die Schuldgefühle haben sich in Luft aufgelöst. Daraus sollte der Einzelhandel folgende Lehre ziehen: Man muss etwas Besonderes herstellen, kundenspezifisch und personalisiert. Damit wird das Schuldgefühl des Massenkonsums direkt weggewaschen.”

Die Zukunft verändern

Saunders Botschaft kann überwältigend ankommen. Eine Herausforderung ist sie sicherlich. Er vertritt die Auffassung, dass die Zukunft nichts ist, was uns einfach so passiert. Wir können sie mitgestalten. „Ein Beispiel: Wenn wir nicht möchten, dass sich Marken unserer Daten bedienen oder Gesichtserkennung einsetzen, können wir uns einfach für eine andere Marke entscheiden.”

„Wie wir uns durch diese chaotische Zukunft bewegen, liegt ganz allein an uns. Die Zukunft ist beängstigend und gleichzeitig unglaublich aufregend. Zu keinem Zeitpunkt in der Geschichte hatten wir so viel Zugang zu Wissen und standen uns so viele Innovationen wie heute zur Verfügung. Und trotzdem läuft‘s bei vielen Einzelhändlern nicht anders als in den 1980er Jahren! Wir müssen den Wandel in der Welt und die veränderten Kundenerwartungen an Einzelhandelsmarken begreifen. Das ist meiner Meinung nach das Wichtigste. Nutzen Sie die Vorteile der Technologie auf allen Ebenen und erinnern Sie sich immer daran, dass Menschlichkeit alles übertrifft: Vergessen Sie niemals zu lächeln!”

In dieser sich schnell wandelnden und leicht verwirrenden Welt ist Howard Saunders' Vision zur Zukunft unserer Groß- und Kleinstädte hoffentlich eine sehr willkommene Beruhigung.

 

Die neuesten Holbox-Nachrichten werden Ihnen jeden Monat per E-Mail zugeschickt!
Wir helfen Ihnen gerne weiter
Alle Felder mit einem * sind Pflichtfelder.